**Fahnenflucht**
Turbinenhalle Giswil, 04.06.-03.07.2005
*** "Fahnenflucht" heisst das Ausstellungsprojekt der Ausstellungsgruppe "Fahnenflucht" unter der künstlerischen Leitung von Franz Birvé und Adrian Hossli

In der grossen Halle der Turbine Giswil in Obwalden hängen vom 4. Juni bis 3. Juli 2005 an den 15 Dachträgern der riesigen Ausstellungshalle 45 Fahnentücher im Format 5 x 2 m die zu je drei Stücken quer zur Hallenflucht hängen.

Thematisch unterstanden die teilnehmenden KünstlerInnen keinem Fahneneid. Im Gegenteil sie wurden dazu aufgefordert, geistige Fahnenflucht zu begehen und die historische Bedeutung von Fahnen und Bannern aufzuheben, zu hinterfragen. Die Fahne soll eine neue, unabhängige künstlerische Dimension erfahren, die allein der künstlerischen Intension der schöpferischen Person unterstellt ist.

Meine Fahne ist Teil des Projektes Beautiful City. Sie ist dieser Stadt geweiht. Ich beziehe mich bei der Fahne mich auf die vier Gemälde von Barnett Newman "Who's afraid of Red Yellow & Blue". Newman sagt von seiner Malerei: "The problem of a painting is physical and metaphysical, the same as I think life is physical and metaphysical." In ähnlicher Art und Weise verstehe ich auch das Spannungsfeld reale–ideale Stadt. *** **Fahnenflucht**

Zunächst die Fahne: Ein im engeren und eigentlichen Sinn durch Fahnennägel an einer Fahnenstange oder einem Fahnenstock mit meist verzierter Spitze befestigtes farbiges Tuch von meist rechteckiger Gestalt; im weitern Sinn jedes als Kenn-, Wahr- oder Feldzeichen dienende, an einer Stange befestigtes Tuch, wie es besonders von Truppenteilen, Städten, Körperschaften und andern Gruppierungen als Sinnbild der Zusammengehörigkeit geführt wird.

Fahnen im engeren Sinn sind Flaggen, Banner, Standarten und Wimpel. Als Stammes- und Feldzeichen sind Fahnen im Morgenland seit dem frühen Altertum bekannt; im römischen Heer erlangten sie reiche Verwendung. Seit dem 11. und 12. Jh. gab es in Italien und Deutschland Fahnenwagen (Carroccio, Karrasche). Das späte Mittelalter kennt die Fahne als Banner oder Panier. Im deutschen Reichsheer vor dem 1. Weltkrieg führten alle Truppengattungen Fahnen. Die Fahnen der Reiterei hiessen Standarten. Die Fahnen dienten ursprünglich im Kampf als Orientierungshilfe für die Soldaten. Kennzeichnend dafür ist der im 16. und 17. Jh. für die taktische Einheit gebräuchliche Name: Fähnlein, unter einer Fahne zusammengeschlossene Abteilung des Fussvolkes (300 – 600 Mann), meist unter einem Hauptmann. Im Dritten Reich Formation des Jungvolkes (Hitler-Jugend).

Aus dieser engen Bindung der Truppe an ihre Fahne erwuchs deren Bedeutung als Symbol der militärischen Ehre und Treue. Auf seine Fahne leistete der Soldat den Fahneneid. Im Söldnerheer wurde der Fahneneid zur Bekräftigung des Soldvertrags geleistet. In der Schweiz wird der Fahneneid erst im Falle der Mobilmachung geleistet. Damit wurde die Fahne zum Heiligtum, das kirchlich geweiht, an besonderer Stelle aufbewahrt wurde.
Als Fahnenträger verwandte man ausgesuchte Leute (Fähnriche, Fahnenjunker), die Verteidigung der Fahne selbst mit Aufopferung des eigenen Lebens war stets höchste soldatische Pflicht, sie zu verlieren eine Schande für die ganze Truppe, die Eroberung feindlicher Fahnen eine Ruhmestat.

Die bei Prozessionen verwendeten katholischen Kirchenfahnen gehen auf die Feldzeichen des Mittelalters zurück. Eine weisse Fahne gilt als Kennzeichen des Unterhändlers im Krieg und bei der Kapitulation im Rahmen von Kriegshandlungen. Eine gelbe Fahne galt früher für pestverseuchte Ortschaften, eine weisse mit rotem Kreuz ist Zeichen der Genfer Konvention. Eine rote Fahne als Zeichen der proletarischen Weltrevolution. Im Islam gilt eine grüne Fahne als Fahne des Propheten. Auf christlichen Bildern wird eine Fahne vom Lamm Gottes oder vom auferstandenen Christus als Siegeszeichen geführt.

Fahnenflucht, früher Desertion, meint das eigentliche Entfernen, Verlassen oder Fernbleiben eines Soldaten von seiner Truppe oder Dienststelle, um sich der Verpflichtung zum Wehrdienst dauernd oder zeitweise zu entziehen. Fahnenflucht wird als Straftat mit Gefängnis bestraft. Im Krieg wurden Fahnenflüchtige oder Deserteure erschossen.

In unserer Ausstellungsidee ging es gerade darum, die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler aus dieser historischen Umklammerung zu befreien, sie aufzufordern diesem überlieferten geistigen Prinzip abzuschwören, im übertragenen Sinn Fahnenflucht zu begehen. Mit andern Worten bekamen die Künstlerinnen und Künstler die Möglichkeit, die Fahne grundsätzlich neu zu konzipieren, entwerfen, individuell zu deuten, in einem neuen Sinnzusammenhang zu definieren, sie von ihrem geschichtlichen Ballast zu befreien. Durch die regelmässige, strenge, raumfluchtbezogene Hängung, die auch an traditionelle Ausstellungs- und Festzeltformen anknüpft (Landi 1939, Vereinsfeste auf kantonaler und eidgenössischer Ebene), wird zumindest die Erinnerung an alle Fahnentradition gewahrt und vielleicht auch die Unmöglichkeit einer radikalen Flucht verhindert. Dadurch bleibt es dem Ausstellungsbesucher überlassen, dem künstlerischen Fluchtgedanken zu folgen oder an den angestammten Fahnenplatz konventioneller Sehweise zurückzukehren.

Aus 153 eingegangenen Entwürfen hat eine Fachjury aus künstlerischen Vertretern der beteiligten Kantone 45 Arbeiten ausgewählt, die in einem drucktechnischen Verfahren auf die Masse 5 x 2 Meter vergrössert wurden und die jetzt diese Halle in einer eher zufälligen Reihenfolge beleben.

In den Nebenräumen sind alle Entwürfe einsehbar, die sie durchaus auch einer persönlichen Jurierung unterwerfen dürfen. Die Organisatoren möchten sich bei den Kunstschaffenden ganz herzliche bedanken für ihr Mitmachen und sie auch ermuntern unsere kommenden Ausstellungsprojekte zu begleiten.

Wir danken auch allen Ausstellungsbesuchern für ihr Erscheinen und hoffen auch, dass sie wieder kommen. Damit ermuntern auch sie die Künstlerinnen und Künstler in ihrem Schaffen und tragen dazu bei, dass in dieser dezentralen Innerschweizer Nische ein diesem Raum angemessener kultureller Biotop entsteht.
Ich danke auch allen Helferinnen und Helfern, die durch ihren engagierten, unentgeltlichen Einsatz ein solches Ereignis möglich machen. Nicht zuletzt und vor allem möchte ich auch allen Gönnern und Sponsoren herzlich danken, ohne die wir momentan nicht über die Runden kämen. Bleiben sie unserer Turbine treu. Wir danken ihnen.

Wir wünschen ihnen noch einen gemütlichen Abend bei Musik, Speis und Trank und anregende Unterhaltung.

**Text:** Adrian Hossli, Giswil 2005