Auf einer Wanderung im Nationalpark, es war Sommer 2006, zog mich die besondere Form des Berges Munt la Schera (2586m) an, die runde von eiszeitlichen Gletschern abgeschliffene Bergkuppe. Auf dem Gipfel hat man eine prächtige Aussicht auf den im Süden liegenden Cima Paradiso (3028m). Genau unter dem Munt la Schera führt ein Tunnel. Ursprünglich wurde er für den Bau der Staumauer gebaut, heute dient er als Autotunnel von Ova dal Fuorn an der Ofenpassstrasse zum Lago di Livigno. Der Tunnel, der Berg, die Aussicht: Dies brachte mich auf die Idee, Dantes göttliche Komödie auf die reale Landschaft zu projizieren. Ich wollte als Tourist die Seelenwanderung Dantes durch das Jenseits, von der Unwissenheit und Sünde über die Reue zur Erkenntnis, zur Anschauung Gottes, nachzeichnen. Ich schritt Stationen dieser Seelenwanderung in der heutigen Realität ab und zeichnete die ganze Aktion mit einer Videokamera auf. Meine Wanderung beginnt bei der Zollstation Punt la Drossa / P4 (1711m). Von dort steige ich zu Fuss im Wald Richtung Alp la Schera (2095m), weiter geht es den Bergrücken hoch zum Gipfel des Munt la Schera (2587m). Hier geniesse ich die Aussicht, insbesondere auf den gegenüberliegenden Cima Paradiso (3028m) im Süden . Die Wanderung führt weiter, die Südflanke der Bergkuppe hinunter bis zum Tunnelportal Punt dal Gall (1809m) am Lago di Livigno. Zu Fuss durchquere ich den 4 Kilometer langen Tunnel. Durch das Innere des Berges gelange ich zurück zum Ausgangspunkt. Die Aktion Himmel – Hölle führt mich über verschieden Orte und Situationen zurück zum Anfang. Eine typische Situation, die uns allen von Wochenendausflügen vertraut ist. Ein Schock, wenn das dantesche Wertsystem auf unser postmodernes, spielerisches Weltverständnis prallt, der Weg der Läuterung sich in einem Freizeitpark verirrt. Mythologie dient im archaischen Sinne als Welterklärung zur Bekämpfung von Angst vor dem Unbekannten. Bei Dante funktioniert Mythologie als Ordnungsentwurf, als Wertsystem. Sie wird zum Massstab, wie wir uns verhalten sollen, was richtig oder falsch ist. Die Pilgerschaft als den Weg der Menschheit zum Heil. Bei Himmel – Hölle gibt es kein Heilsverspechen, kein erreichbares Ziel, kein Ankommen. Raum-, Zeit- und Bewegungskonzepte unterliegen einer Verflechtung. Ich erschliesse verschiedene Räume und erweitere diese durch die historische, durch die mythologische Dimensionen. Die Mythologie ist ein Realitätsentwurf und schafft Wirklichkeit. Mythologie ist ein Koordinatensystem, in dem wir uns bewegen und vernetzen, wie Touristen in der Landschaft. Ich spiele mit den verschiedenen Realitätsebenen, verstehe sie als ein ineinandergreifen von verschiedenen Räumen . Im Tunnel findet ein Wechsel von aussen zu innen statt. Die Architektur des Ortes ist nicht mehr erfahrbar. Der Untergrund ist die Auflösung des Raumes, die Topografie der Landschaft löst sich auf. Im ganzen Wechselspiel der verschiedenen Ebenen entsteht eine eigene, vernetzte und verwobene Architektur, ein Labyrinth.Jenseits des Sees steht diesem Labyrinth der unerreichbare Raum, der Cima Paradiso gegenüber. Es ist ein paradiesischer Wunschort: Fern, unerreichbar, abwesend, unfassbar. Es ist ein Sehnsuchtsraum. Als solcher ist er ein real nicht existierender Raum, ein Projektionsraum unserer Sehnsüchte und Wünsche. Text: Bernhard Huwiler, Bern, Frühjahr 2007 ***** **Anmerkungen** 1.) Die "Göttliche Komödie" von Dante Alighieri (Divina Commedia, 1307 bis 21) ist das größte christliche Weltgedicht. Dieses Epos, nach dem Vorbild der Äneis von Vergil geschaffen, wurzelt in der lateinischen Epik und der mittelalterlichen Philosophie. Thema ist der Zustand der Seelen nach dem Tode. Das Epos schildert in hundert Gesängen gleichnishaft die Wanderung Dantes durch das Jenseits als den Weg der Seele von der Unwissenheit und Sünde über die Reue zur Erkenntnis und zur Anschauung Gottes, als den Weg der Menschheit zum Heil. Die Pilgerschaft führt durch die Hölle (Inferno) über den Läuterungsberg (Purgatorio) zum himmlischen Paradies (Paradiso). 2.) Francesco Petrarca, die Besteigung des Mont Ventoux (Familiarum rerum libri IV 1), Reclam Universal-Bibliothek Nr. 887, übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. Am 26.April 1336 bestieg Francesco Petrarca, ein zweiunddreissig jähriger Literat, Geistlicher und Poet einen mittelhohen Berg in Südfrankreich und hielt seine Eindrücke in einem Brief, der erste im vierten Buch der Briefsammlung Familiarum rerum, an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolero, ein Augustienermönch, fest. In dieser Schrift ist der physische Aufstieg weniger wichtig als der spirituelle. Nicht so sehr als alpinistisches Dokument, sondern als ein Zeugnis einer Epochenwelle in der Geschichte der ästhetischen Erfahrung gilt dieser Brief an seinen Freund. Petrarca hat eine Erfahrung von Landschaft als ästhetische Erfahrung gemacht, die an Intensität alle vorausliegende Landschaftserfahrung übertrifft. Diese ist trotz der spätantik-christlichen Vorformen, die man bei den griechischen Kirchenvätern findet, in ihrer perspektivischen Gestaffeltheit bis zu den Grenzen eines fernen Horizontes eine ästhetische Erfahrung neuer Qualität. Auch die Verbindung von ästhetischer und kontemplativer Betrachtung scheint eine grundsätzliche neue Möglichkeit der Landschaftserfahrung zu sein. Den Menschen der Antike wie den des Mittelalters zeichnet eine eigentümliche Scheu aus, die Welt von oben zu betrachten. Der natürliche Aufenthaltsort des Menschen ist unten, seine ihm gegebene Blickrichtung ist die von unten nach oben, die des contemplator caeti, des Betrachters des Himmels. Noch weisst in diesem Brief die mittelalterliche Heilssorge und Weltverneinung die neugierige Schaulust der Renaissance in die Schranken, aber der erste Schritt zu einer neuen Weltsicht war getan. (Auszüge aus dem Nachwort) 3.)
* der Naturraum
* der touristische Raum
* der topografische Raum
* der Landschaftsraum
* der Grenzraum
* der begrenzte Raum
* der Innenraum
* der historische Raum
* der mythologischen Raum
* der Projektionsraum
* der Sehnsuchtsraum
* der unendliche Raum